Das Milton-Modell oder die Kunst, möglichst vage zu schreiben

Aus der Perspektive eines ambitionierten Content-Managers erscheint eines sinnvoll und unumgänglich: Die Bedürfnisse der Zielgruppe möglichst genau zu erfassen und Ansprache sowie Inhalte zielgerichtet maßzuschneidern. Eigentlich eine gute Idee – doch auch wenn die Zielgruppe analysiert und Personas definiert sind, bleibt doch immer noch die Unsicherheit bezüglich des einzelnen Individuums. Können wir wirklich sicher sein, unsere Leserschaft zu erreichen? Denn schlussendlich konstruiert sich jeder Mensch seine Wirklichkeit selbst. Mit dem Milton-Modell haben wir ein spannendes Werkzeug zur Hand, das dem Credo der textuellen Personalisierung entgegensteht: Die Kunst, möglichst vage zu bleiben und dennoch Resonanz beim Leser zu erzeugen.
Inhaltsverzeichnis
Unbewusst bewusste Sprachmuster
Das Milton-Modell in Kürze
Sprachtechniken nach Milton
1. Nominalisierungen
2. Unspezifische Verben
3. Unbestimmter Inhaltsbezug (Referenzindex)
4. Vollständige Tilgung
5. Vergleichstilgung
Und weshalb jetzt das Ganze?
Unbewusst bewusste Sprachmuster
Politiker können eines besonders gut: Worthülsen nutzen, die dennoch aussagekräftig erscheinen. Auch Verkäufer bedienen sich dieser Technik: „Mit dem Produkt sind Ihnen Erfolg, Glück und Wohlstand sicher“ – und schon hast Du einen Staubsauger gekauft, der Dir dank sauberer Wohnung zu einem ausgeglichenen Selbst verhelfen und somit mehr Fokus auf Deine Ziele ermöglichen soll. Vielleicht fragst Du Dich dann, wie genau das passiert ist. Wieso hast Du dieses hochpreisige Ding gekauft, obwohl Deine Ratio ganz klar Einspruch dagegen eingelegt hat?
Der versierte Verkäufer hat sich – bewusst oder unbewusst – einem Muster des Milton-Modells bedient, um Dein Denken und Fühlen mittels vager Sprache zu steuern. Bevor wir uns den Sprachmustern mit konkreten Beispielen widmen, erst einmal ein kleiner Exkurs: Was ist dieses Milton-Modell überhaupt?
Das Milton-Modell in Kürze
Der amerikanische Psychiater und Psychotherapeut Milton Hyland Erickson war dafür bekannt, sich hervorragend in die Gefühlslagen seiner Patienten hineinversetzen zu können. Er arbeitete mit kunstvoll vager Sprache, um Pateinten ihr Unbewusstes als Ressource zugänglich zu machen und so neue Perspektiven zu schaffen.
Diese Herangehensweise inspirierte die Gründer des Neuro-Linguistischen-Programmierens (NLP), die angewandten Sprachmuster in einem Modell zu realisieren: Dem Milton-Modell.
Ziel ist es mitunter, Aussagen möglichst vage, jedoch allgemeingültig zu formulieren und somit die Bedeutung offen zu lassen. Hierzu bedient sich das Modell beispielsweise
- Tilgungen & Löschungen
- Verallgemeinerungen
- Verzerrungen
- Zitaten
- Vorannahmen
um bei jedem Leser individuelle Interpretationen hervorzurufen. An diesem Punkt wird deutlich, wie das Modell der vagen Sprache der Zielgruppen-Problematik seinen Schrecken nehmen kann.
Je unspezifischer eine Aussage, desto intensiver muss der Leser vor seinem eigenen Erfahrungshintergrund interpretieren und findet so Zugang zu seiner Gefühlswelt.
Ein bekanntes Beispiel: Die einfache Aussage „stell Dir einmal vor, Du beißt in Deine Lieblingsfrucht“ beinhaltet eine allgemeingültige Formulierung. Jeder Mensch verbindet mit seiner Lieblingsfrucht ein anderes Obst, einen anderen Geschmack, und – schlussendlich – ein anderes Gefühl. Mit Feinheiten dieser Art lassen sich Texte vage und dennoch individuell-nutzerspezifisch aufbereiten. In diesem Falle machen wir uns den Konstruktivismus zu Nutze, anstatt ihn als Hürde zu betrachten.
Sprachtechniken nach Milton
Das Modell unterscheidet 6 Gruppen an Sprachtechniken, die verschiedene innerpsychische Prozesse anstoßen:
Gruppe I |
Gruppe II |
Gruppe III |
Gruppe IV |
Gruppe V |
Gruppe VI |
Löschungen & Tilgungen |
Semantische Fehlinformationen |
Verallgemeinern |
Vorannahmen |
Indirekte Auslöser |
Metaphorische Sprachmuster |
Nominalisierungen |
Kausalitäten |
Anonymisierung |
Verben der Wahrnehmung |
Versteckte Fragen |
Homomorphe Metapher |
Unspezifische Verben |
Gedankenlesen |
Quantifizierung |
Temporale Nebensätze |
Versteckte Befehle |
Isomorphe Metapher |
Unbestimmter Inhaltsbezug |
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Modaloperatoren |
Ordnungszahlen |
Analoges Markieren |
Zitat |
Vollständige Tilgung |
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Pseudowahl |
Konversationspostulate |
Punktuelle Grenzüberschreitung |
Vergleichstilgung |
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Die Tabelle visualisiert, wie facettenreich das Modell nach Milton aufgestellt ist. Um den Rahmen nicht zu sprengen, soll dieser Beitrag die Gruppe I: Löschungen und Tilgungen näher beleuchten.
Tilgungen: Streichen & Ergänzen
Wie die Überschrift bereits vermuten lässt, geht es bei diesem Sprachmuster um das bewusste Streichen von Satzinhalten. Es ist am Leser, den Inhalt vor dem Hintergrund seiner Erfahrungswelt zu interpretieren und Emotionen zu wecken.
Ebenso wie beim Mind Mapping sind verschiedene Assoziationen mit einem Begriff (beispielsweise: Feuerwehrauto) verbunden, die der Leser abruft. So färbt er den Inhalt dank seiner persönlichen Nutzerbrille subjektiv ein.
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1. Nominalisierungen
Nominalisierungen sind Wörter, die nicht greifbar sind und Prozesse oder Abläufe implizieren. Jeder Nominalisierung weckt bei jedem Leser unterschiedliche Assoziationen, die mit verschiedenen Gefühlen verbunden sind. Das bedeutet, dass Nominalisierungen für jeden Menschen individuell mit Sinn besetzt und schlussendlich mit einer subjektiven Wertewelt verbunden sind:
- Glück
- Liebe
- Freiheit
- Wohlstand
- Wohlbefinden
- Freude
- Frieden
- Zuneigung
- Wissen
- Schwierigkeiten
Jedes Mal, wenn der Leser im Text diese Begriffe wahrnimmt, stellt er unbewusst einen passenden Kontext her, der mit Emotionen verknüpft ist. Je nach Textauftrag kannst Du individuell mit diesen Begriffen spielen und ganz verschiedene Resonanzen bei Deinen Lesern erzeugen:
„Dank Erholungsprogramm im bayrischen Voralpenland lädst Du Deine Batterien vom Alltagsstress auf. Mit eigener Ferienwohnung genießt Du alle Freiheiten und kannst Deine Auszeit in vollen Zügen genießen. Vergiss alle Sorgen und finde Dein ganz persönliches Glück am Urlaubsort. Dieses einmalige Erlebnis sorgt für innere Ruhe und Wohlbefinden.“
Dieser Textabschnitt zum Thema „Urlaub und Ferienwohnung“ ist gespickt mit Nominalisierungen, die je nach Leser unterschiedliche Bilder und Gefühle wecken. Für den Aktivsportler sieht ein Erholungsprogramm anders aus, als für den Wellness-Fan. Auch Alltagsstress und Sorgen manifestieren sich bei jedem Menschen unterschiedlich. Welche Erlebnisse Du als einmalig empfindest, ist ebenso Deiner Fantasie überlassen. Mit Hilfe von Nominalisierungen erzeugst Du also vielfältige Bilder bei Deinem Gegenüber.
2. Unspezifische Verben
„Du wirst Ressourcen entdecken, die Dir erlauben, etwas Unglaubliches zu erfahren, was Dein Leben in neue Bahnen lenkt. Sofort spürst Du Dinge, die Du zuvor nicht wahrnehmen konntest.“ So oder so ähnlich könnte sich ein Anruf bei einer Hellseher-Hotline Deiner Wahl anhören. Nicht selten fühlen sich die Zuhörer jedoch bestens verstanden.
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Wie Du schon richtig erkannt hast, liegt der Fokus in diesem Abschnitt auf dem Sprachmuster „unspezifische Verben“. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass der Leser bestimmte Worte selbst mit Sinn versehen muss, um den Satz zu entschlüsseln. Dabei bleibt das Medium so vage in seinen Aussagen, dass die Prognosen für den Anrufer zwar Sinn ergeben, jedoch allgemeingültig bleiben. Weitere Verben dieser Klasse sind beispielsweise:
lernen | finden | lösen | wundern |
wahrnehmen | erfahren | verstehen | erinnern |
bewusst werden | integrieren | denken | spüren |
Diese neutralen Worte sprechen keine der Sinne an und lassen offen, wie die Person die Aktion für sich definiert.
PS: Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass das Medium auch eine Reihe von Nominalisierungen wie beispielsweise „Ressourcen“ oder „Unglaubliches“ einsetzt.
3. Unbestimmter Inhaltsbezug (Referenzindex)
Bei diesem Muster macht man sich die Neigung des Menschen zu sozial erwünschtem (Antwort-)Verhalten zu Nutze. Der unbestimmte Inhaltsbezug triggert eine eher zustimmende als ablehnende Leser-Haltung.
- Aussage: „Viele genießen den herrlichen Duft einer frisch zubereiteten Tasse Kaffee.“
- Erwünschte Reaktion: Ja, ich auch.
- Aussage: „Man kann sich in diesem Feriendomizil herrlich erholen.“
- Erwünschte Reaktion: Ja, ich kann mich erholen.
- Aussage: „Mit diesem Tool lernen Kinder ganz leicht Neues.“
- Erwünschte Reaktion: Meine Kinder können das auch.
Auf der einen Seite bleiben diese Aussagen möglichst oberflächlich, damit der Leser sie für sich annehmen kann. Auf der anderen Seite neigen wir dazu, der Mehrheit zu glauben und uns der vorherrschenden Meinung mit einem inneren Nicken anzuschließen. Übrigens: Auch vermeintlichen Expertenmeinungen schenken Menschen gerne Glauben.
4. Vollständige Tilgung
Wie der Titel bereits vermuten lässt, werden bei einer Tilgung bewusst Information aus dem Satz gestrichen:
„Du kannst gespannt sein. Mit ein wenig Übung bist Du schnell in der Lage, es richtig zu nutzen und eine umfassende Expertise aufzubauen. Lass Dich darauf ein und sei neugierig, was die Zukunft bringen wird.“
In diesem Beispiel fehlt der Bezug zum Objekt: Worauf sollte ich neugierig sein? Worin kann ich Expertise aufbauen? Diese unvollständigen Sätze regen den Leser dazu an, die Aussagen mit eigenem Sinn zu versehen. Der Nutzer schneidert den Inhalt auf seine Bedürfnisse passgenau zurecht.
Marketing-Kampagnen machen Gebrauch von Tilgungen, um Aufmerksamkeit zu erregen: Das Bayrische Rote Kreuz verzichtet mit seiner Aktion „#missingtype – Erst wenn’s fehlt, fällt’s auf!“ bewusst auf die Buchstaben B und O, um den Bezug zum Blutspenden herzustellen. Auch wenn unser Gehirn den Text intuitiv komplettiert, ist die Unvollständigkeit der Wörter im ersten Moment ein Störer.
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5. Vergleichstilgung
Im Gegensatz zur vollständigen Tilgung wird bei der Vergleichstilgung ein offener Vergleich abgebildet. Das heißt, der Vergleich wird nicht explizit beschrieben. Der Leser ist angehalten kreativ eigene Parallelen zu ziehen. Begriffe dieser Gattung sind beispielsweise:
leichter | intensiver |
öfters | weniger |
stärker | besser |
schneller | reicher |
süßer | größer |
Dabei handelt es sich in der Regel um Komparativvergleiche, da sie Unterschiede zu etwas beschreiben, das jedoch nicht eindeutig benannt ist.
Vergleichstilgungen spielen mit unseren Emotionen. Geschickt platziert, lassen sich individuell Gefühle und Bilder in Verbindung mit einem Produkt hervorrufen:
„Mit diesem Bike kletterst Du höher, schneller, weiter – ob ruppiger Trail oder steiler Aufstieg: Stürz Dich ins nächste Abenteuer und gehe ambitionierter daraus hervor. Dieses MTB hat wirklich alles was Du brauchst, um noch besser zu sein.“
Und weshalb jetzt das Ganze?
Das Milton-Modell gibt uns spannende Anregungen zum Experimentieren an die Hand. Auch wenn einige der Muster auf den ersten Blick komplex wirken, lassen sie sich mit etwas Kreativität hier und da einbauen. Ziel ist es nicht, den gesamten Text mit den Sprachmustern durchzustylen, sondern an der ein oder anderen Stelle spannende Impulse zu setzen und mit der menschlichen Wahrnehmung zu spielen. Denn erregt es keine Aufmerksamkeit, bleibt es bekanntermaßen nicht hängen.
Auch wenn der Beitrag Denkanstöße liefert, das Thema „Zielgruppe“ weniger verbissen zu betrachten, bedeutet es natürlich nicht, wertvolle Zielgruppenarbeit über Bord zu werfen. Der Artikel appelliert vielmehr daran, analoge Kommunikations-Muster in die digitale Welt zu übertragen und gängige Konventionen von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten. Dass wir wissen müssen, für wen wir schreiben, ist nicht von der Hand zu weisen. Jedoch helfen Modelle wie dieses dabei, mit der Sorge umzugehen, nicht jeden Leser erreichen zu können. In diesem Sinne: Mut zur Lücke – oder besser gesagt – zur Tilgung.
Übrigens: Solltest Du weitere Anregungen suchen, wie Du Deine Texte zielgruppenspezifisch aufbereiten kannst, wende Dich an contify – wir unterstützen Dich gerne bei Deinem Projekt.
Quellenverzeichnis:
Abbildung 4: https://www.blutspende.de/erstspender/